Verlust für die Musikwissenschaft und Musikphilologie
Zum Tod von Prof. Dr. Gerhard Allroggen, dem Herausgeber der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe
Im Weber-Jubiläumsjahr 2026 hätte er seinen 90. Geburtstag feiern können – nun ist Prof. Dr. Gerhard Alloggen vor wenigen Tagen in seiner Hamburger Wohnung verstorben. Die Musikwissenschaft verliert in ihm einen weit über Detmold/Paderborn hinaus hochgeschätzten Kollegen, die Musikphilologie einen auch praxiserfahrenen, mit einem scharfsichtigen Blick und unbestechlichem Urteilsvermögen ausgestatteten Editor. Das Musikwissenschaftliche Seminar Detmold/Paderborn und die Universität blicken dankbar auf seine Zeit als kollegialer Hochschullehrer und engagiertes, sachkundiges Mitglied in Kommissionen und im Rektorat zurück. Seine ehemaligen Studierenden und Doktorand:innen erinnern sich an viele anregende und mit einer gründlichen Portion Humor ausgestalteten Seminare und die Begegnungen mit einer außerordentlich zugewandten Lehrerpersönlichkeit. Die am Hause beheimatete Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe, die ihr Entstehen seinem unermüdlichen Einsatz verdankt, verliert in ihm einen schon frühzeitig die neuen digitalen Möglichkeiten erkennenden und fördernden Mentor.
In Bochum 1936 geboren, verbrachte Gerhard Allroggen seine Schul- und Jugendzeit in Wiesbaden. Sein Studium der Musikwissenschaft, der Philosophie und der Literaturwissenschaft begann er in Frankfurt und setzte es dann in Hamburg fort, wo er parallel die Dirigierklassen von Walter Martin und Hans Schmidt-Isserstedt besuchte. Auch das Oboenspiel gehörte zu seinen Unterrichtsgegenständen. Diese Verbindung zur musikalischen Praxis prägte ihn zeitlebens und erhielt sein Interesse an Interpretationsfragen (in Verbindung mit einer stetig wachsenden Sammlung an Tonträgern) lebendig.
Gerhard Allroggen promovierte 1967 in Hamburg bei dem Bach-Forscher Georg von Dadelsen mit einem Verzeichnis der Werke E. T. A. Hoffmanns (auch einer der Jubilare des kommenden Jahres). Die Arbeit erschien 1970 in der von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Reihe Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. In Hamburg wurde durch Georg von Dadelsen und den mit Schmidt-Isserstedt befreundeten Hoffmann-Forscher Friedrich Schnapp auch Allroggens dauerhaftes Interesse an philologischen Fragestellungen geweckt. Sein weiterer Weg führte ihn dann zur Musikwissenschaft nach Bochum, wo er von 1967 bis 1977 als Wissenschaftlicher Assistent von Heinz Becker arbeitete und daneben Chor und Orchester aufbaute. In dieser Zeit begann auch die Redaktionstätigkeit in der von Becker im Henle-Verlag
herausgegebenen Reihe Die Oper. Kritische Ausgabe von Hauptwerken der Operngeschichte, in der Allroggen noch 1990 mit Martin y Solers Dramma giocoso Una cosa rara ossia Bellezza ed onestà einen eigenen Band vorlegte. Bei Becker habilitierte er sich 1976 mit einer Studie zu den italienischen Opern Niccolò Piccinnis, die leider nie im Druck erschienen ist.
Zum Wintersemester 1977/78 wurde Gerhard Allroggen als Professor für Musikwissenschaft an die Hochschule für Musik Detmold berufen. Als der Kooperationsvertrag mit der Universität Paderborn das Musikwissenschaftliche Seminar in eine Gemeinsame Wissenschaftliche Einrichtung der beiden Hochschulen überführte, wechselte Allroggen – wie sein Kollege Prof. Dr. Arno Forchert – dienstrechtlich als Professor für Historische Musikwissenschaft an die Universität. Seine Forschungsschwerpunkte bildeten fortan die Musik und Musikästhetik der deutschen Frühromantik, das Schaffen Wolfgang Amadeus Mozarts und E. T. A. Hoffmanns, die neapolitanische Oper im späten 18. Jahrhundert und später auch das Werk und die Person Carl Maria von Webers. Im Zusammenhang mit seinem besonderen Interesse für die Musik des Trecento wuchs ferner sein Interesse an Notationsformen generell, was seine zahlreichen, bei den Studierenden beliebten Transkriptionsseminare belegen.
Daneben war Allroggen stets ein sehr engagierter und versierter Mitarbeiter in den universitären Gremien und wurde 1991 zum Prorektor für Studium und Lehre an der Universität Paderborn gewählt – ein Amt, das er bis 1995 innehatte. Ende der 80-er Jahre begann er sich für eine Ausgabe der kompletten schriftlichen Hinterlassenschaft Webers zu engagieren und konnte dann 1993 das Berlin-Detmolder Akademienprojekt der bei Schott in Mainz erscheinenden Weber-Gesamtausgabe etablieren – mit einer zunächst bis 2026 reichenden Förderbewilligung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Ebenso setzte er sich in seinen letzten Jahren in Detmold/Paderborn noch für die Realisierung des damals durch die DFG geförderten Edirom-Projekts ein. Nicht zu vergessen ist auch, dass er für seine Doktorandinnen und Doktoranden jederzeit ein offenes Ohr hatte und es an Ermunterung nicht mangeln ließ. 2001 wurde Gerhard Allroggen emeritiert – der anlässlich seiner Verabschiedung im Oktober 2001 an der Hochschule für Musik veranstaltete MeisterWerk-Kurs zu Webers Abu Hassan, der Studierende und Dozenten aus verschiedensten Bereichen der künstlerischen Praxis, der Musiktheorie und der Wissenschaft zu intensiver gemeinsamer Arbeit zusammenbrachte, war noch einmal ein Zeichen für die integrierende und auf vielfältigsten Kompetenzen aufbauende Arbeitsweise Allroggens. Unvergessen, wie er damals sogar in der Lage war, an einem Tag, an dem Prof. Thomas Quasthoff verhindert war, die Betreuung der Einstudierung der Gesangsrollen zu übernehmen.
Als Wissenschaftler hatte sich Allroggen vor allem im Bereich der Edition internationale Anerkennung erworben. Seine Beteiligung an der Neuen Ausgabe sämtlicher Werke Mozarts (mit zwei Bänden früher Sinfonien, publiziert 1984 und 1985 sowie 1988 dem Opernfragment Lo sposo deluso KV 439), seine Mitwirkung bei der Reihe der ausgewählten musikalischen Werke von E. T. A. Hoffmann, in der er 1975 dessen Singspiel Die lustigen Musikanten und 1985 das Quintett c-Moll für Harfe, zwei Violinen, Viola und Violoncello vorlegte oder die 1987 veröffentlichte Klarinettensonate Es-Dur von Felix Mendelssohn Bartholdy – all diese Aktivitäten belegen sein großes Interesse an philologischen Problemen, das ihm dann auch bei der Etablierung der Weber-Ausgabe zugute kam, das er aber auch an deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiterzuvermitteln wusste.
Die besondere Liebe Allroggens zu E. T. A. Hoffmann drückte sich schließlich in der Mitwirkung an der von dem Paderborner Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Hartmut Steinecke im Deutschen Klassiker Verlag herausgegeben sechsbändigen Reihe der dichterischen Werke und Schriften Hoffmanns aus, die zwischen 1985 und 2004 in Frankfurt erschien. Neben seinen zahlreichen Aufsätzen sei hier noch die Mitwirkung an der seinerzeit neuartigen Vermittlungsform im Funkkolleg Musik erwähnt – ein Beitrag, der dann 2002 in die bei Bärenreiter erschienene Europäische Musikgeschichte mit einging. Aber auch als Übersetzer der umfangreichen Puccini-Biographie von Mosco Carner war er tätig (erschienen 1996 bei Insel), wobei ihm seine eigentlich altphilologisch geprägten großen Sprachkenntnisse zugute kamen. Überhaupt übte das
Phänomen Sprache auf ihn einen besonderen Reiz aus – seine Sprachspielereien, sein Sprachwitz und überhaupt der humorvolle, aber schätzende Umgang mit seinen Mitmenschen sind vielen, die mit ihm Kontakt hatten, unvergesslich.
Das Musikwissenschaftliche Seminar Detmold/Paderborn verliert mit ihm einen hochgeschätzten Kollegen, der wesentlich zum heutigen Ruf dieser Ausbildungs- und Forschungsstätte beigetragen hat. Das Musikwissenschaftliche Seminar wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.